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«Normitis» im Werkvertragsrecht

Für Laien ist es völlig unübersichtlich, was an Gesetzen und Normen vorhanden ist und allenfalls berücksichtigt werden muss, wenn eine Bauherrschaft mit einem Unternehmer einen Werkvertrag abschliessen will. Doch der Laie mag sich trösten: Auch viele gestandene Baufachleute haben gelegentlich Zweifel, ob sie wirklich alles Nötige wissen. Der Hauptgrund dafür ist die verwirrende Anzahl privater Normen, vorwiegend vom Branchenverband SIA. Im Dickicht der Normen, wie nützlich sie im Einzelfall auch sein mögen, verliert man schnell die Orientierung. Einer der profiliertesten zeitgenössischen Rechtsgelehrten im Werkvertragsrecht, der emeritierte Professor Peter Gauch von der Universität Freiburg, hat das emsige Normieren denn auch schon als «Normitis» bezeichnet. Durch die Vielzahl der Normen wird das verdrängt, was der Ursprung und Kern des Werkvertrags ist: das Gesetz (und insbesondere das Obligationenrecht).

Am Anfang ist das Obligationenrecht

Der Werkvertrag ist, wie viele andere Vertragstypen auch (beispielsweise der Auftrag), im Obligationenrecht (OR) geregelt. Ein Werkvertrag liegt dann vor, wenn ein Unternehmer für einen Besteller ein vorher genau vereinbartes Werk herstellt. Im Unterschied zu einer Kaufsache ist das Werk ein Unikat, das speziell angefertigt werden muss. Ob der Unternehmer das Material liefert, ist zweitrangig, immer aber leistet er Arbeit. Werkverträge sind im Alltag viel häufiger, als man gemeinhin annimmt. Gemäss Gesetz sind beispielsweise Autoreparaturen und Coiffeurdienstleistungen als Werkverträge zu betrachten: Wer sich die Haare schneiden lässt, schliesst demnach mit dem Coiffeur einen Werkvertrag ab (vermutlich allerdings nur stillschweigend).

Den Unterschied zwischen Kauf- und Werkvertrag kann man anschaulich in einem Kleidergeschäft der gehobenen Klasse erleben. Wer im Erdgeschoss Kleider ab Stange erwirbt, bewegt sich juristisch im Bereich des Kaufrechts. Wer dann mit der Rolltreppe ins Obergeschoss fährt, um sich die Masse nehmen zu lassen für einen Massanzug, bewegt sich nicht nur in ein anderes Preissegment, sondern auch in eine andere Rechtsumgebung: Hier herrscht nämlich Werkvertragsrecht.

Das Obligationenrecht ist ein sehr knapp gehaltenes Gesetz. Speziell trifft dies auf den Werkvertrag zu, dem ganze fünfzehn Artikel (Art. 363 bis 379 OR) gewidmet sind. Für einfache Werkverträge wie den erwähnten Haarschnitt reichen diese wenigen Bestimmungen aus. Für das Baugewerbe allerdings, eines der wichtigsten Anwendungsgebiete des Werkvertragsrechts, sind die paar Artikel etwas knapp. Seit jeher gibt es daher in der Bauwirtschaft eine privat ausgearbeitete Präzisierung zum Gesetz: Die «Allgemeinen Bedingungen für Bauarbeiten» in Form der berühmten SIA-Norm 118.

Die «Handwerkernorm» SIA 118

Die SIA-Norm 118 («Allgemeine Bedingungen für Bauarbeiten») wird auch als «Handwerkernorm» bezeichnet. Sie ist kein Gesetz, sondern ein juristisches Hilfsmittel. Die Norm soll «den Abschluss und die Gestaltung der Verträge erleichtern» und bewirken, «dass im Bauwesen möglichst einheitliche Vertragsbedingungen verwendet werden» (Präambel zur SIA-Norm 118). In diesem Sinne ist die SIA-Norm 118 als spezieller Fall von «Allgemeinen Vertragsbedingungen» zu verstehen, in denen der Rechtsverkehr einer ganzen Branche geregelt werden soll: Sie sind eine Art «Branchenbedingungen». Ihre vorformulierten Vertragsbestandteile erhalten erst Rechtsgeltung, wenn sie, teilweise oder gesamthaft, in den konkreten Vertrag übernommen werden.

Die SIA-Norm 118 ist sehr ausführlich und enthält 190 Artikel. Die heute (2012) gültige Fassung stammt aus dem Jahr 1977 (mit geringfügigen Präzisierungen im Jahre 1991). 2013 wird eine überarbeitete Fassung erwartet. Gemäss Berichten aus der schon seit 2005 tagenden Revisionskommission soll die bewährte Norm nur einer sanften Revision unterzogen werden.

Da die SIA-Norm 118 im Bauwesen eine enorme Bedeutung hat, betrachten wir sie ausführlicher (Näheres siehe hier). – Vorerst führen wir aber den Streifzug durch den juristischen Dschungel weiter: mit den Spezialnormen.

Spezialnormen

Zusätzlich zur SIA-Norm 118, die in praktisch jeden Werkvertrag als mitgeltender Bestandteil übernommen werden kann, gibt der SIA eine ganze Reihe von Spezialnormen heraus, die nur für einzelne Bauteile oder Arbeitsgattungen von Belang sind. Es gibt beispielsweise Spezialnormen für Aufzugsanlagen, Pfahlfundationen, Malerarbeiten, Fenster und viele weitere Gebiete. Sie enthalten Vereinbarungen zur Qualität, Präzisierungen zu den kaufmännischen Usanzen und anderes mehr. Teilweise gehen aus den Spezialnormen auch jene gesicherten Erkenntnisse hervor, die für das betreffende Gewerbe als «anerkannte Regeln der Baukunst» gelten.

Eine beliebige dieser Spezialnormen wollen wir herausgreifen und etwas genauer anschauen: die SIA-Norm 342 für Sonnen- und Wetterschutzanlagen. Sie besteht, wie andere Normen zu einzelnen Arbeitsgattungen, aus einem technischen und einem organisatorischen Teil. Im technischen Teil findet man unter anderem Vereinbarungen zu zulässigen Massabweichungen (Toleranzen) oder Anforderungen an die verwendeten Materialien. Im organisatorischen Teil wird beispielsweise definiert, welche Leistungen in die Offertpreise einzurechnen sind und für welche Zuschläge verlangt werden können (z.B. Zuschlag für Montage ohne Gerüst ab 3 m Arbeitshöhe). Im organisatorischen Teil der Spezialnorm 342 finden sich ebenfalls Vereinbarungen zu den Zahlungsbedingungen, und zwar folgende: Fällig sind 30% bei Vertragsabschluss, 30% bei der Lieferung auf die Baustelle, 30% nach der Montage sowie der Rest gemäss SIA 118 (siehe dazu Abschnitt «F. Rechnungswesen»; insbesondere Absatz «Akontozahlungen und Rückbehalt»).

Allgemeine Bedingungen Bau (ABB)

Wie oben ausgeführt, enthalten die Spezialnormen (z.B. die SIA-Norm 342 für Sonnen- und Wetterschutzanlagen) einen organisatorischen und einen technischen Teil. Seit dem Jahr 2004 ist der SIA nun dazu übergegangen, die organisatorischen Teile herauszulösen und dafür eine eigenständige Normenreihe zu schaffen, nämlich die Allgemeinen Bedingungen Bau (ABB). Diese enthalten «die Vertragsbedingungen, die für einzelne Baubereiche oder Bauteile gelten, aber nicht technischer Art sind. Es handelt sich um Erläuterungen zu vertragsrelevanten Aspekten. Sie umschreiben in der Regel Zuordnungen von Aufgaben oder die Abgrenzung von Leistungen». (Quelle: Website SIA; Stand April 2012).

Die Allgemeinen Bedingungen Bau (ABB) sind somit als Ergänzung zur SIA-Norm 118 zu verstehen. Die Basisnorm SIA 118 enthält die Vertragsbedingungen, die für die gesamte Bauwirtschaft gelten, die Allgemeinen Bedingungen Bau (ABB) die zusätzlichen Vereinbarungen, die nur für einzelne Bereiche massgebend sind.

Betrachten wir dies am Beispiel der Metallbauarbeiten, für die es bisher die SIA-Norm 240 aus dem Jahr 1988 gegeben hat. Der organisatorische (kaufmännische) Teil ist im Jahr 2012 herausgelöst und in folgende Norm überführt worden: «Norm SIA 118/240 Allgemeine Bedingungen für Metallbauarbeiten – Vertragsbedingungen zur Norm SIA 240 (2012)». Der restliche Teil der SIA-Norm 240 enthält nur noch die technischen Vereinbarungen, weshalb diese Norm vom SIA nun als «technische Norm» bezeichnet wird. Pro Baubereich (Arbeitsgattung) soll es somit in Zukunft in der Regel zwei Normen geben, eine organisatorische (kaufmännische) mit der Bezeichnung 118/xxx («Allgemeine Bedingungen Bau ABB») und eine technische. Bis jetzt (2012) ist bei gut 25 Arbeitsgattungen diese Zweiteilung vorgenommen worden.

Wirrwarr

Es ist nicht unproblematisch, die zahlreichen SIA-Normen schematisch in Werkverträge zu übernehmen, ohne die Gesamtzusammenhänge ausreichend zu berücksichtigen. Wir wollen diesen Sachverhalt anhand eines Beispiels eines Werkvertrags näher betrachten. Es handelt sich dabei um die Arbeitsgattung der Storen. — Nehmen wir an, in der Vertragsurkunde sei vereinbart, dass die Normen SIA 118 (Allgemeine Bedingungen für Bauarbeiten; «Handwerkernorm») sowie SIA 342 (Sonnen- und Wetterschutzanlagen) vollumfänglich als Vertragsbestandteile übernommen werden. Nehmen wir weiter an, dass das Architekturbüro allen Werkverträgen routinemässig das bürointerne Schriftstück «Besondere Bedingungen des Architekturbüros» beilegt, das ebenfalls Gültigkeit erlangen soll. Dieses Dokument enthält unter anderem einen Passus zu den Zahlungsbedingungen. Wie die Erfahrung zeigt, sind speziell auf dem Gebiet des Zahlungswesens der Fantasie keine Grenzen gesetzt (längere Zahlungsfristen, Vorfinanzierung, Gegengeschäfte, Bargarantie, Bezahlung in WIR etc.). Im gleichen Vertrag befinden sich nun zwei unterschiedliche Versionen von Zahlungsbedingungen: die «besonderen» des Architekturbüros und die branchenüblichen gemäss der Norm 342. Schon haben wir den Wirrwarr.

Streng juristisch wird sich der Knoten vermutlich lösen lassen, indem im Vertrag ebenfalls vereinbart ist, nach welcher Rangordnung Vertragsbestandteile gelten, die sich widersprechen. Beispielsweise gehen individuelle Abreden den vorformulierten Klauseln immer vor. Damit ist der Bauherrschaft aber nur vordergründig gedient. Grundsätzlich unbefriedigend ist für sie nämlich der verwirrende Mix aus mehreren Schriftstücken mit juristischem Inhalt (SIA 118, ABB, Spezialnormen, «besondere» Bedingungen des Architekturbüros, Bedingungen des Unternehmers etc.). Ihr fehlt die Übersicht. Selbst wenn sie über den Inhalt aller Normen genau im Bild wäre, wüsste sie nur nach langem und mühsamem Studium aller Vertragsbestandteile, was nun effektiv vereinbart worden ist. Auf welche Punkte ist die «Handwerkernorm» SIA 118 anzuwenden und auf welche eine Spezialnorm (z.B. SIA 342)? Wann sind die «besonderen» Bedingungen des Architekturbüros massgebend? Und wo schliesslich (falls überhaupt) gilt eigentlich noch das Gesetz (OR)?

In der Praxis kommt es allerdings meistens gar nicht so weit, dass die Bauherrschaft überhaupt mit dem Studium beginnt. Die typische Gelegenheitsbauherrschaft hat nämlich kaum eine Ahnung, was überhaupt in den Normen steht, die in ihren Verträgen angewendet werden sollen. Ich vermute, dass es in der Schweiz noch nie eine nicht sachkundige Bauherrschaft gegeben hat, die im Hinblick auf den Abschluss der zahlreichen Werkverträge alle Normen gelesen hat und der voll bewusst gewesen ist, welche Verträge sie eigentlich eingegangen ist.

Glücklicherweise zeigt die Erfahrung, dass dieses Nichtwissen über Gesetze und Normen für Gelegenheitsbauherren nur erstaunlich selten negative Folgen hat. Dies ist ein Indiz dafür, dass der Architekt als Gesamtleiter seine Treuhandfunktion gegenüber dem Bauherrn in der Regel gut wahrnimmt. Es liegt primär am Gesamtleiter, das juristische Puzzle im Hinblick auf die Gestaltung der Werkverträge für seinen nicht sachkundigen Bauherrn gut zusammenzusetzen. Die Bauherrschaft kann kaum viel mehr tun, als einzelne kritische Fragen zu stellen und allenfalls anzuregen, zusätzliches externes juristisches Fachwissen beizuziehen, falls dies nötig sein sollte.

Eines jedenfalls ist klar: Für gute Verträge ist der Gesamtleiter verantwortlich, auch wenn er nicht selber Vertragspartner ist, sondern sein Bauherr. Es liegt am Gesamtleiter, auf vertragstechnischem Gebiet die Interessen des Bauherrn zu vertreten. Er muss seinen Bauherrn über die juristischen Besonderheiten der Verträge aufklären. Der Gesamtleiter ist haftbar, wenn dem Bauherren aus mangelhaften Verträgen ein Schaden entsteht.

Teure Normen

Ein nicht zu vernachlässigender Aspekt scheint mir in diesem Zusammenhang zu sein, dass die Normen relativ viel Geld kosten. Kein Vorwurf ist dabei dem SIA zu machen, der einen grossen Teil der Normen herausgibt – im Gegenteil. Es ist so, dass die Mitglieder in den Normengremien, meist hochkarätige Experten, ohne Entschädigung arbeiten. In freiwilliger Fronarbeit tragen sie dazu bei, den Stand des Wissens im Bauplanungsgewerbe zu dokumentieren und damit die Regeln der Baukunst festzulegen. Es liegt auf der Hand, dass die Normen als Produkte ihrer Arbeit ihren Preis haben. Trotzdem ist gemäss meinen Erfahrungen eine durchschnittliche Bauherrschaft nicht so ohne Weiteres bereit, dafür tief in die Taschen zu greifen. Die «Handwerkernorm» SIA 118 etwa (Allgemeine Bedingungen für Bauarbeiten), die in der Schweiz jährlich Bestandteil von mehreren zehntausend Werkverträgen ist, kostet beim SIA für Nichtmitglieder zurzeit 153 Fr. Für das gesamte SIA-Normenwerk, rund 170 Titel umfassend in 18 Ordnern, müssen 6 400 Fr. ausgelegt werden (Stand 2012).

Meiner Ansicht nach wäre die Idee prüfenswert, die Preise der Normen differenzierter anzusetzen. Die wichtigsten Normen, mit denen Bauherren konfrontiert sind, sollten günstiger sein, insbesondere die SIA-Honorarordnungen 102 ff. sowie die SIA-Norm 118. Ideal wäre sogar, wenn sie kostenlos abgegeben würden, so wie beispielsweise in der Versicherungsbranche jeder Vertragsurkunde (Police) die Allgemeinen Geschäftsbedingungen automatisch gratis beigelegt werden.

In letzter Zeit hat der SIA Unterstützung vom Verband Schweizerischer Generalunternehmer VSGU erhalten, was die Preisgestaltung von wichtigen Hilfsmitteln zur Vertragsgestaltung anbelangt. Der Mustervertrag samt Allgemeinen Vertragsbedingungen AVB ist auch dort deutlich teurer geworden (siehe Abschnitt «Mustervertrag und Allgemeine Vertragsbedingungen AVB» im Kapitel 8).

Europäische und schweizerische Normen

Die zunehmende Einbindung der Schweiz in die EU hat auch Auswirkungen auf das baubezogene Normenwesen. Im Baubereich gibt es etwa 2 000 europäische Normen (einschliesslich der geplanten), während das Normenwerk des SIA, wie oben erwähnt, weniger als 200 Titel umfasst. Die Schweiz hat die Pflicht, sämtliche neuen europäischen Normen zu übernehmen. Im Baubereich besorgt dies der SIA. Nach und nach fliessen die europäischen Normen somit in die einheimischen ein, wobei eine SIA-Norm oft auf mehrere europäische verweist. Das schweizerische Normenwesen wird daher nicht verschwinden, aber an das europäische angepasst. (Quelle: Artikel «SIA-Normen oder europäische Normen?» TEC 21; Nr. 38/2011; Seite 34).