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Ein Testbericht über Wohnbauten

Eine löbliche Ausnahme in dem trüben Feld der Behauptungen und Vermutungen über die Güte von Bauwerken und deren Kosten ist eine Testreihe über Wohnsiedlungen, herausgegeben von der ETH Zürich (Quelle: Wohnbauten im Vergleich, Verlag der Fachvereine, Zürich 1992, Herausgeber: Professor Paul Meyer, Institut für Hochbautechnik, ETH Zürich). Von der angegebenen mehrbändigen Publikationsreihe verwenden wir in erster Linie den Gesamtbericht.

Die Autoren betätigen sich, um den Jargon der Finanzindustrie zu verwenden, als Rating-Agentur für Wohnsiedlungen. Grundsätzlich geht es in der Studie darum, die Wohnqualität von ausgewählten Siedlungen nachvollziehbar zu beurteilen. Mit dem Resultat, dem Wohnwert, können dann interessante Vergleiche angestellt werden. Besonders aufschlussreich ist eine Gegenüberstellung mit den Kosten.

Wohnqualität messen

Zuerst fragen wir uns, wie man die Qualität im Wohnbereich messen kann. Während man sich noch relativ schnell einigen kann, auf welche Qualitätsmerkmale es etwa bei einer Glühbirne oder einem Staubsauger ankommt, wird das gleiche Unterfangen bei einer Wohnung viel schwieriger. Es gibt keine naturgegebene, objektive Definition der Wohnqualität. Wenn man eine Anzahl Leute darüber befragt, werden unterschiedliche Merkmale genannt, die ein wohnliches Umfeld ausmachen. Sie werden auch individuell unterschiedlich gewichtet. Jedes System, das eine derart komplexe Qualität wie die Wohnqualität misst, kommt daher ohne ein gewisses Mass an Willkür nicht aus.

Die Autoren der ETH-Studie greifen auf ein Messinstrument zurück, das in den siebziger Jahren konzipiert worden ist und damit schon eine lange Geschichte hat: das Wohnungsbewertungssystem WBS. Es ist ein verwaltungsinternes Instrument des Bundesamtes für Wohnungswesen. Mit ihm wird beurteilt, ob Wohnprojekte Anspruch auf finanzielle Unterstützung durch die öffentliche Hand haben. Es ist speziell für das preisgünstige Marktsegment geeignet, denn nur dieses hat Anspruch auf Förderung. Für höherpreisige Wohnungen ist das WBS nur bedingt anwendbar.

Instrumente wie das Wohnungsbewertungssystem WBS basieren auf der Entscheidungsmethode der Nutzwertanalyse. Es ist nicht ganz einfach, gute Nutzwertanalysen zu konzipieren. Im Falle des WBS haben es die Entwickler zweifellos am nötigen wissenschaftlichen Tiefgang nicht mangeln lassen. Wer Freude an umfassender Systematik hat, kommt hier voll auf seine Rechnung.

Der Wohnwert gemäss WBS wird ermittelt aufgrund von gut fünfzig Kriterien, auf die wir nicht im einzelnen eingehen. Sie sind in den zwei Gruppen «Wohnung» und «Wohnanlage» zusammengefasst (siehe unten). Wenn ein Projekt bei der Beurteilung eine bestimmte Punktzahl erreicht, wird es als unterstützungswürdig erachtet. Voraussetzung ist allerdings, dass es einige zusätzliche Kriterien erfüllt (minimale Raumgrössen, Kostenlimiten etc.).

Der Wohnwert ist unabhängig von der Güte des Standortes. Standortbezogene Kriterien wie Erholungsmöglichkeiten, zentrale Einrichtungen, Schulen, öffentlicher Verkehr und dergleichen beeinflussen ihn nicht. Der Wohnwert ist somit ausschliesslich ein Mass für die Güte der Architektenarbeit. Ein wichtiges Kriterium wird allerdings ausgeklammert, nämlich die formale Gestaltung (Ästhetik).

 

Kriterien für die Ermittlung des Wohnwertes
(gemäss Wohnungsbewertungssystem WBS)

Kriteriengruppe W1: Wohnung
  • Möblierbarkeit (Raumflächen, Breiten, Stellwandflächen)
  • Beziehungen der Räume untereinander
  • Raumaufteilung und Veränderbarkeit (z. B. nichttragende Wände)
  • wohn-physiologische Eignung (Orientierung, Belichtung, Ausstattung in Küche und Bad, Schallschutz)
Kriteriengruppe W2: Wohnanlage
  • Wohnungsauswahl (unterschiedliche Wohnungstypen)
  • Erschliessung (Parkplätze, Hauseingang, interne Erschliessung)
  • gemeinsame Einrichtungen im Haus und im Freien (Mehrzweckraum, Spielplatz, Gartenanteil etc.)

Quelle:
Wiegand/Aellen/Keller: Wohnungsbewertung / Wohnungs-Bewertungs-System (WBS), Schriftenreihe Wohnungswesen Band 35, Bundesamt für Wohnungswesen, Bern, Ausgabe 1986

Ein verblüffendes Ergebnis

Interessant ist nun eine Gegenüberstellung von Wohnwert und Kosten von verschiedenen Siedlungen. Für die Gebäudekosten wird der Kubikmeterpreis (gemäss SIA 116) verwendet. Damit die Werte von verschiedenen Erstellungsjahren vergleichbar sind, werden die Kostenkennwerte auf den gleichen Referenzzeitpunkt umindexiert.

Wir beschränken uns auf drei bekannte Wohnanlagen: zwei Siedlungen aus der Region Bern (Aumatt II in Hinterkappelen von der ARB Arbeitsgruppe und Thalmatt II vom Atelier 5) sowie das sogenannte Indexhaus (siehe Abschnitt «Ein Beispiel zur Bandbreite der Kosten») an der Limmatstrasse in Zürich. Die wichtigsten Zahlen sind in der Tabelle auf der nächsten Seite zusammengestellt. Wir interpretieren sie wie folgt:

 

Kosten-Nutzen-Vergleich von drei ausgewählten Siedlungen
(alle Siedlungen Baujahr 1983&endash;1985)

Siedlung Wohnwert
W1 + W2
m3-Preis
Index 1.10.86
Aumatt II, Hinterkappelen BE
1 475
456
46 Wohnungen, Genossenschaft,
zwei- bis fünfgeschossige Bauten
Thalmatt II, Herrenschwanden BE
1 454
757
37 Eigentumswohnungen,
mehrgeschossig dicht gebaut
Limmatstrasse 184, Zürich (Indexhaus)
1 087
475
öffentl. Wohnungsbau der Stadt Zürich,
43 Wohnungen, fünfgeschossiger Wohnblock

Quelle:
Meyer (Herausgeber), Wohnbauten im Vergleich, Seite 28 (genaue Quellenangabe siehe am Anfang dieses Abschnitts)

 

  • Vergleich Aumatt - Thalmatt

Gemäss Wohnungsbewertungssystem WBS haben beide Anlagen praktisch den gleichen Wohnwert von etwas über 1 450 Punkten. Aber sie sind unterschiedlich teuer. Der Kubikmeterpreis beträgt für die Aumatt 465 Fr. pro m3, für die Thalmatt jedoch 757 Fr. pro m3.

Das scheinbar schlechte Preis-Leistungs-Verhältnis der Siedlung Thalmatt hat eine plausible Erklärung und darf keineswegs überbewertet werden. Die Architekten verfolgen hier ein aufwendiges architektonisches Konzept und bieten ein grosszügiges Raumprogramm an. Beides wird von den Bewohnern in hohem Masse geschätzt. Die Siedlungen des Atelier 5 gehören in vielen Kreisen denn auch zu den bevorzugtesten Wohnadressen überhaupt. Diese zweifellos vorhandene Wohnqualität schlägt sich allerdings nicht ausreichend im Wohnwert gemäss WBS nieder, da dieses Messinstrument für Wohnungsbau der gehobenen Klasse nur bedingt geeignet ist. Die Siedlung Thalmatt hat Qualitäten, die mit dem Wohnungsbewertungssystem WBS nicht erfasst werden.

 

  • Vergleich Aumatt - Indexhaus

Gemessen an der Mustersiedlung Aumatt kann das Indexhaus in Zürich als biederer Durchschnitt bezeichnet werden. Dieser konventionelle städtische Wohnblock hat fast den gleichen Kubikmeterpreis wie die Aumatt, aber einen viel geringeren Wohnwert.

 

  • Fazit

Aus den beiden Vergleichen können wir das Fazit ziehen, dass ein hoher Wohnwert nicht zwangsläufig mit hohen Kosten verbunden ist. Es besteht kein Zusammenhang zwischen Qualität und Kosten. Das Ergebnis ist so bedeutsam, dass es sich lohnt, den verblüffenden Befund der Autoren im Wortlaut wiederzugeben (Seite 31 des oben zitierten Werkes):

«Im Gegensatz zu der landläufigen Meinung kann kein Zusammenhang zwischen Wohnqualität und Baukosten aufgezeigt werden. Das heisst, dass mit der Optimierung des Gebäudetypus, der Grundrisse, der Konstruktion und des Ausbaustandards günstiger Wohnraum mit guter Wohnqualität erstellt werden kann.»

 

Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Wohnqualität und Baukosten

Neutrale Tests bringen den Markt in Schwung

Man kann am Testverfahren, das in diesem Abschnitt beschrieben worden ist, zweifellos herumkritisieren. Die Autoren des Wohnungsbewertungssystems WBS selber geben sich betont vorsichtig und stellen allfällige Mängel auch keineswegs in Abrede. Nutzwertanalysen enthalten bekanntlich immer einen Schuss Willkür. Etwas muss man dem Bericht «Wohnbauten im Vergleich» aber zugestehen: Die Ergebnisse sind teilweise verblüffend, und vor allem sind sie in hohem Masse nützlich für den Markt. Neutrale Marktuntersuchungen schaffen Transparenz.