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Zerstört Sparsamkeit die Baukultur?

Die Antwort ist ein klares Nein: Sparsamkeit zerstört die Baukultur keineswegs. Im folgenden wollen wir auf diese grundsätzliche Frage im Sinne eines philosophischen Exkurses etwas näher eingehen. In bezug auf das Sparsame in der Architektur prüfen wir zwei Thesen, eine milde und eine radikalere.

Die milde These: Sparsamkeit verhindert gute Architektur nicht

Gute Architektur und günstige Kosten schliessen sich nicht gegenseitig aus, sondern sie sind unabhängig voneinander. Im Verlauf des Buches werden wir auf eine grundlegende Studie eingehen (siehe Abschnitt «Ein Testbericht über Wohnbauten»), die sich mit diesem zentralen Thema befasst. Vorläufig nehmen wir die Hauptaussage, dass Kosten und Qualität voneinander unabhängig sind, bloss zur Kenntnis. Günstige Kosten wirken sich also nicht zwangsläufig zu Lasten der formalen und städtebaulichen Qualität, der Benutzbarkeit, der Dauerhaftigkeit, des Unterhalts oder der Umwelt aus. Negative Folgen sind bei niedrigen Kosten zwar denkbar, aber eine schlechte Lösung ist genausogut auch bei hohen Kosten möglich. Es besteht schlicht kein kausaler Zusammenhang.

Werfen wir zum besseren Verständnis einen Blick in eine ganz andere Welt, auf die Automobilindustrie. Hat hier der extreme Kostendruck, der weltweit auf der Branche lastet, die Kultur des Autobaus zerstört? Keineswegs, im Gegenteil. Die cleversten Ingenieure und Betriebswirtschafter unternehmen alles, um die Kosten laufend zu senken. Und was ist das Resultat? Die Qualität wird ständig besser, und zwar signifikant. Gleichzeitig nimmt die Umweltbelastung ab. Die Qualität hängt somit in erster Linie vom geistigen Einsatz von vielen engagierten Leuten ab – und nicht von den Kosten. Wieso sollte es im Bauwesen anders sein?

Die radikale These: Knappe Mittel begünstigen gute Architektur

Gemäss der milden These verhindern knappe Mittel gute Architektur nicht. Man kann nun noch einen Schritt weiter gehen und postulieren, dass erst durch Sparsamkeit echte Baukunst überhaupt ermöglicht werde. Das Preisgünstige ist das Schöne: eine irritierende These?

Sehen wir uns etwas um in der Geschichte. Ein gutes Beispiel ist die traditionelle einheimische Bauernhausarchitektur. Nicht Architekten sind hier die Erbauer gewesen, sondern Handwerker. Den meisten von uns gefallen die Schöpfungen dieser anonymen Baumeister. Warum? Vermutlich weil sie in hohem Masse sparsam sind. Mit einfachen Mittel haben die damaligen Bauschaffenden versucht, primär ein Dach über dem Kopf zu schaffen. Das Material ist knapp und teuer gewesen, die Handarbeit dagegen sehr billig (heute ist es gerade umgekehrt). Konstruktionen, die sich während Generationen bewährt haben, haben die Handwerker immer wieder angewendet, bei jedem Haus um Nuancen anders und vielleicht auch immer ein wenig besser. Vielerorts haben die meisten Häuser in der traditionellen ländlichen Architektur einen ähnlichen Grundriss. Es gibt praktisch nur eine Art von Fenstergrösse und nur eine typische Dachform. Im Wesen ist diese Art von Bauen nichts anderes als das, was man heute als Typenhäuser bezeichnet. Alte Bauernhäuser sind Typenhäuser. Sie zeichnen sich aus durch eine Ästhetik der Sparsamkeit.

Wie ist es nun in der klassischen Architektur, die nicht von anonymen Handwerkern, sondern von gebildeten Baukünstlern geschaffen worden ist? Jahrhundertelang hat sich diese eher durch Üppigkeit als durch Knappheit ausgezeichnet. Besonders ausschweifend sind etwa Barock oder Jugendstil gewesen. Aber im 20. Jahrhundert hat ein starker Drang nach dem Einfachen und Elementaren eingesetzt. Das Ornament ist durch den österreichischen Architekten Adolf Loos im Jahr 1908 buchstäblich als Verbrechen bezeichnet worden. Ein ornamentloser Baustil hat sich nach 1920 weltweit etabliert, bekannt etwa unter den Bezeichnungen «Neues Bauen» oder «International Style». Mit dem ausgewanderten jurassischen Architekten Charles Edouard Jeanneret aus La Chaux-de-Fonds, berühmt geworden unter dem Künstlernamen Le Corbusier, hat auch die Schweiz einen nicht unwesentlichen Beitrag dazu geleistet. Der deutsche Architekt Ludwig Mies van der Rohe, der später in Amerika mit Hochhäusern in klassischer Knappheit bekannt geworden ist, hat das Grundanliegen jener Zeit auf den einfachen Nenner gebracht: «Weniger ist mehr».

Das Gesetz der Sparsamkeit hat auch die bildende Kunst in jener Zeit geprägt. In der Malerei hat sich der holländische Maler Mondrian auf einige schwarze Linien und die Primärfarben Rot, Blau und Gelb beschränkt. Brancusi hat für die Plastik neue Massstäbe der Sparsamkeit entdeckt. Der russische Maler Malewitsch schliesslich ist ein paar Jahre vor der bolschewistischen Revolution mit dem «Schwarzen Quadrat» (notabene auf schwarzem Grund ...) dem absoluten Minimum an gestalterischem Aufwand vermutlich ziemlich nahekommen.

Zusammengefasst können wir festhalten, dass Knappheit in der Vergangenheit sehr fruchtbare Auswirkungen gehabt hat, ob die Beweggründe nun wirtschaftlicher oder intellektueller Natur gewesen sind. Vielfach ist gerade die Knappheit der Auslöser für (künstlerische) Spitzenleistungen gewesen.

Fazit: Sparsamkeit ist nicht frevelhaft

Nur einige wenige werden vermutlich die radikale These akzeptieren, dass Knappheit die Voraussetzung für Spitzenleistungen ist, insbesondere auch in der Architektur. Die meisten dürften aber mit der milderen Behauptung einverstanden sein, dass auch mit knappen Mitteln immer ein gutes Resultat möglich sein sollte. Das ist sehr beruhigend. Mit unserer kategorischen Forderung nach günstigen Kosten, die das ganze Buch durchzieht, verbauen wir den Weg zum guten Entwurf somit nicht. Wenn wir uns also vor allem auf die schnöden Kosten konzentrieren, tun wir damit zumindest nichts Frevelhaftes.

Der Autor zählt sich zu den Anhängern der radikalen These. Sparsame Lösungen sind für mich ein echtes Anliegen und eine intellektuelle Herausforderung, keineswegs aber eine lästige Pflicht. Moderne Architekturströmungen der Üppigkeit, die unter verschiedenen Markenzeichen daherkommen (Postmoderne, Dekonstruktivismus und dergleichen), empfinde ich gelegentlich als leicht dekadent.

Gerade für die Architektur hat das berühmte, bald zweihundert Jahre alte Zitat von Goethe nach wie vor seine Berechtigung:

«In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister.» (Goethe)