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Pflichtenhefte sind Kunstwerke

Leider gibt es kein Patentrezept, wie aus der Vielzahl von Einzelanforderungen ein Pflichtenheft entstehen soll. Auch die bereits mehrfach zitierte VSGU-Richtlinie für die Durchführung von Totalunternehmer-Submissionswettbewerben ist diesbezüglich keine grosse Hilfe. Relativ vage wird nur gesagt, dass das Pflichtenheft (hier Wettbewerbsprogramm genannt) zu folgenden Themen Angaben enthalten solle: «Grundstück, Investitionsziel, funktionelle Vorgaben, Raumprogramm, Vorgabe bezüglich Qualitätsstandard, spezielle Wünsche und Auflagen des Bauherrn».

 

  • Beispiel Einfamilienhaus

Anhand einer alltäglichen Bauaufgabe, eines Einfamilienhauses, wollen wir uns mit dem Dilemma vertraut machen, mit dem man bei der Erstellung von Pflichtenheften konfrontiert ist. Es gilt, die richtige Mischung zu finden zwischen allgemeinen Vorgaben und detaillierten, präzisen Anforderungen. Aus Gründen der Effizienz muss man soweit wie möglich anstreben, mit Begriffen wie «üblicher Standard» oder «mittlerer Standard» die verlangten Eigenschaften einzugrenzen. Viele Bauteile sind damit genügend genau spezifiziert. Der Bauherrschaft eines Einfamilienhauses ist es meistens gleich, wie die Oberflächen von Wänden oder Decken konkret ausgebildet werden, solange die Ausführung einigermassen «üblich» ist. Von einem mittleren Standard kann man beispielsweise dann sprechen, wenn die Wände in den Wohnräumen verputzt sind und in den Schlafräumen mit einer Rauhfasertapete belegt. Rohe, unverputzte Oberflächen dagegen gelten nicht als «üblich».

Es gibt aber auch Bauherrschaften, die wollen nicht das Übliche, sondern etwas ganz Spezielles. Vielleicht sollen aus ästhetischen Gründen alle Oberflächen rein-weiss sein, und zwar im RAL-Farbton 9010. Möglicherweise werden aus ökologischen Gründen keine kunststoffgebundenen Verputze akzeptiert. Alle diese Wünsche müssen als zwingende Spezifikationen im Pflichtenheft stehen.

Bei einem recht grossen Anteil der Bauteile kommt man gar nicht um ein hohes Mass an Präzision bei der Beschreibung herum. Die Bauherrschaft möchte nicht eine «übliche» Küche, sondern eine ganz bestimmte mit umsichtig ausgewählten Apparaten. Auch die Elektroinstallation darf nicht einfach «mittlerer Standard» sein. Die Anforderungen an Steckdosen, Schwachstromversorgung, Telefoninstallation und so weiter sind im Detail anzugeben.

 

  • Eine Gratwanderung

Es leuchtet ein, dass ein Laie beim Formulieren derartiger Spezifikationen schnell an Grenzen stösst. Aber auch für Fachleute sind Pflichtenhefte für Gesamtleistungsausschreibungen alles andere als eine triviale Sache. Beim traditionellen Architektenverfahren ist schon das Erstellen einer ganz gewöhnlichen Ausschreibungsunterlage für eine einzelne Arbeitsgattung (z. B. Baumeisterarbeiten) eine solide Leistung. Die Ausschreibung für die Beschaffung eines kompletten Gebäudes ist aber noch eine Stufe höher anzusiedeln. Hier gehört das Verfassen des Pflichtenhefts durchaus in die Kategorie der Kunst. Man befindet sich dabei ständig auf einer Gratwanderung. Einerseits sollen die Anforderungen möglichst offen und lösungsneutral sein, damit keine Entscheide unnötig präjudiziert werden. Die Gesamtleistungsausschreibung soll ja ein Wettbewerb der Ideen sein. Andererseits müssen sie präzise genug sein, damit man die Angebote vergleichen kann und ein Anbieter genau weiss, welche Spezifikationen er zu erfüllen hat. Leistungsmerkmale aller Art sind also genau zu definieren, aber auch nur die, wo es wirklich darauf ankommt. Man kann nicht jede Einzelheit spezifizieren. Das würde Pflichtenhefte mit unhandlichem Umfang ergeben, erstellt mit unverhältnismässigem Aufwand. Der Erfolg des ganzen Abenteuers «Gesamtleistungsausschreibung» hängt somit stark von der Güte des Pflichtenheftes ab.

 

  • Eine Erfahrung aus der Industrie

Die Schweizerischen Bundesbahnen SBB haben bei der Konzeption von Pflichtenheften für die Beschaffung von Neigezügen sehr interessante Erfahrungen gemacht (Handelszeitung, Zürich, 23. Mai 1996). Ursprünglich haben sie aufgrund erster Offerten mit Investitionen von 620 Mio. Fr. gerechnet. Für eine zweite Offertrunde sind sie beim Pflichtenheft nochmals radikal über die Bücher gegangen und haben die zuerst vierhundert Vorgaben auf zehn reduziert, «um den Ingenieuren einen gewissen Spielraum zu geben». Als Resultat sind die Offerten auf unter 500 Mio. Fr. zusammengeschmolzen.

Meiner Ansicht nach sind die Verhältnisse im Bauwesen ähnlich. Es ist auch hier zu erwarten, dass die Baukosten geringer sind, je offener die Anforderungen sind und je weniger Vorgaben und Einschränkungen gemacht werden. Ein Preisunterschied von 20% zwischen einem überspezifizierten und einem offenen Pflichtenheft würde mich nicht überraschen.